Auszüge aus einer Lesung


des Buches "Agamemnon und Kasandra in Lakonien"

Die Grabschändung

 
Im südlichen Lakonien, westlich der Eurodasmündung in dem kleinen Dorf Ano Glikovrisi, besaß ich zusammen mit drei Freunden ein Haus. Ich erfuhr eines Tages im Kafenion von folgender Geschichte:

Nahe dem Dorf planierte ein Bauer am frühen Morgen eines Novembertages eine Erdfalte für ein neues Orangenfeld. Seine Raupe donnerte durch die Morgenstille und zerriss den Frieden. Er entdeckte, ohne es zu begreifen, zwei dicht beieinander liegende mykenische Gräber. Sie waren mit Steinplatten abgedeckt.

Mit der Planierraupe schob er die Platten beiseite. In den
Gräbern befanden sich je ein Skelett und reichlich Beigaben:
Vasen, Schälchen, Schmuck und ein Dolch.
Der Bauer verkannte den Wert der Funde. Die Goldteile
waren so verwittert und verstaubt, dass er sie für wertlos hielt.
Ein zierliches goldenes Halsband aus Troja zerfiel unerkannt
unter seiner Feldhacke. Eine Weile noch stocherte er in der
Graberde nach goldenen Münzen, dann gab er enttäuscht auf.

Der Bauer zertrümmerte die Marmorplatten mit der Raupe.
Er verteilte die Trümmer zusammen mit der roten Lehmerde
über die Mulde und begradigte den Acker. Am Nachmittag
pflanzten albanische Landarbeiter Orangensprösslinge und
legten schwarze Bewässerungsschläuche aus.

Nachts saß ich ruhelos auf der Terrasse unseres Hauses.
Über mir spannte sich das Band der Milchstraße und plötzlich
war mir, als schwebte ein Geist um mich. „Hör zu, Fremder“,
säuselte es aus dem Olivenbaum neben mir, „Agamemnon
kehrte nie nach Mykene zurück. Auf dem Schiff von Troja
heimwärts verliebte sich der Sterbliche unsterblich in Kassandra,
die er geraubt hatte, und hier, wo du liegst, begründete er ein
zweites Leben. Klytämnestra und Ägistos schmiedeten umsonst
den Gattenmord.“ Dann blies jäh eine Bö vom Lakonischen Golf
her und es war stil.



Mykene
 
Wie soll ich beginnen
Mykene zu beschreiben,
von Bergen, genannt
Elias und Zara,
behütete Stätte.
Gut geschmiedet
ist das Band
zwischen mir und
der Bronzefeste.
Viele Male
wandelte ich auf
Perseus‘ Pfaden,
fand mich selbst
und öffnete mich,
umgeben von grob
behauenen Steinen.

Von weitem schon,
wenn die Sicht
frei wird über
Oleander hinweg
auf Zyklopenmauern,
schärfen sich
die Sinne.
In mir erwacht ein
verborgener Geist,
sucht einen Weg
nach draußen.

Vom Winde bewegt
geben Thymian
und Oregano
feine Öle frei
über Mykenes
staubigen Feldern
und ich sauge
die Gerüche
in mich auf, vom
Augenblick berauscht.

Mykene, du
stärkst mich
für neue Taten.
So komme ich
seit Jahren
zu dir und
verneige mich
voll Ehrfurcht.

Wie oft schon
schritt ich
freudig erregt
durchs Löwentor,
erklomm Rampe
und Stufen zum
Pallas hinauf,
nahm Platz auf
warmem Felsen.

Unter mir
erstreckt sich
hinter sanften Hügeln
die fruchtbare Argolis.
In der Abendsonne erst
erwacht ihr Liebreiz
im Spiel der
Formen und Farben.

Milder Westwind
streichelt mich,
den Zurückgekehrten.
Nach Thiryns schauend,
der alten Hafenfeste,
beäugt von Argos
und Nauplio,
beruhigt sich
der Rastlose
und mir scheint,
als legten Vorfahren
ihre Hände auf
meine Schultern.

In der Nekropole
im Rund
der Königsgräber
verbargst du
goldene Schätze über
die Jahrtausende.
Der schützenden Erde
entnommen sind
die Masken
der Männer und
die Armreife
der Frauen, Zeugnisse
einstiger Blüte.
Grausam offen,
Geheimnissen beraubt,
sind die Gräber nun,
den fremden
Blicken preisgegeben.

Zerfallen sind
die Schrecken
deiner Geschichte.
Verdaut ist das
scheußliche Kindsmahl
des Thyestes, und
die Zeit hat
verziehen der
treulosen Klytämnestra.
Verhallt auch ist
der Racheschrei Orests
im Festsaal.

Im Schatzhaus
des Artreus allein
wachst du, Mykene.
Unter der Kuppel
leben die Stimmen
gelöst von Mündern.
Die Worte
schallen vielfach
inmitten der
Halle und die
runden Wände
entlang huschen
heimliche Botschaften zum
eigenen Ohr zurück.

Zur Zisterne hin
zieren dich, Mykene,
in Steinritzen
erblühte Veilchen
am Rande
des Fußweges.
Stufe um Stufe
steige ich
in die Finsternis
und spüre
doch Licht
in den Adern.
Kein Strahl
dringt nach außen
im Tal der Schwärze.
Da berührst du mich,
verflossenes Mykene.

Zurück in der
Sonne der
endlichen Welt
lausche ich
in den Abend.
Derbe Hände
legen sich
um eine Flöte,
aus edlem
Holz gefertigt,
in der Schlucht
hinter der Nordpforte.
Den Lehmweg entlang
in die Berge
tänzelt eine
kleine Windrose.

Jeder Ton,
aus dem Atem
des Hirten geformt,
ein Geschenk.
Ein bunter Vogel
stürzt vom Himmel
und verendet.
Unter dem Ölbaum
lehnt der Schafehüter
und Ohrenbetörer
an rauer Rinde.



Kriegsbeute
 
Den Körper geschunden,
doch das Haupt mit
Lorbeeren bekränzt,
segle ich, Agamemnon,
zurück in die Heimat.
Im Schiffsbauch
reiche Beute,
Gold und Frauen
aus Troja, führe
ich mit mir.

Möwen gleiten
längsseits des Schiffes
über Morgenblau,
krächzen sehnsüchtig.
Boten meines Landes?
Und das Meer
teilt sich am Bug,
gebiert glitzernde
Schaumkronen über
unendlichen Wassern.

Auf Deck richten
treue Gefährten,
das Tauwerk.
Dumpfer Donnerschlag
des Steuermanns und
Stöhnen der Ruderer
verletzt den Morgen.
Ruderblätter blitzen
indessen zur Freude
der Delphine.

Kassandra nackt
zu meinen Füßen,
träume ich dem
neuen Tag entgegen,
bewacht und behütet
von ihren Blicken.
Im Erwachen
nehme ich
die Weißhäutige
unter meine Decke.
Still gibt sich hin
die Seherin.



Schlafwächterin
 
Zur Wächterin
der Nacht
erkoren bin ich.
Geöltes Haar
legt sich auf
blasse Schultern,
ihm zu gefallen.

Morgenwind bläst
durch die Luken.
Bringt er das
Ende des Leidens?
Trägst du mich,
Schwester Hoffnung,
zu gastlichen Ufern?

Meine Zehen spielen
im Fell, das
ihn wärmt, und
mein Blick ruht auf
dem Helden;
narbenübersät, doch
edel in den Zügen
sein Antlitz.

Du erwachst, Mann,
hungrig nach Speisen
und Lust,
berührst meine Hände
in der Schale
voller Oliven
am Bettrand.
Nimmst dir beides,
Früchte und mich.
Ich weine
nicht hörbar
in deinen Armen,
ungefragt erobert.



Im Lager
 
Klamme Zeltluft
atmete ich Höriger
der Macht.
Regen prasselte
auf entweihtes Land.
Draußen in der Ebene
mischte sich Menschenblut
mit fruchtbarem Lehm
und Exkrementen
streunender Hunde,
und Muttererde
gebar Entsetzen.

Gestank von Toten
strich an mein Lager.
Verfaulte da Ruhm
auf Trojas Feldern?

Blut, Schlamm,
verkrustete Wunden
zeichneten die Freunde
und ich lechzte
nach Rache über
neun Jahre lang.

Der Frauen
leises Stöhnen
auf den Fellen
der Krieger
war nicht gezeugt
in Liebe.
Im Weinrausch
verletzten die Kämpfer
die Herzen der Frauen,
zuvor geraubt
auf Weizenfeldern.

Eines Tages
kämpfte ich dicht
vor Trojas Gemäuer.
Sieben Feinde
erschlug ich.
Mitten im Getöse
der Schlacht
nahm ich
eine Göttin wahr
auf dem Steinwall.
Für einen Moment
vergaß ich
den Kampf
und suchte
ihre Augen, doch
sie verschwand.

Des Achilleus
geliebte Briseis
zitterte ängstlich
auf meinem Nachtlager.
Gewaltsam entführt,
wagte sie
nicht Gegenwehr.
Achilleus, der Betrogene,
wehklagte entsetzlich
in seinem Zelt,
dem Wahnsinn nahe.
Ich jedoch dachte
an die Schöne
auf der Mauer.

Vor Troja
wartete derweil
der grausame Tod
auf Freunde
und Feinde.



Schlaflos
 
Ach Götter, ihr,
schenkt mir Schlaf
und nehmt fort
die wirren Gedanken!
Ich träumte
das Ende von Troja,
besiegelt mit Blut.

Von der Mauer aus
sah ich das Elend
der Schlachten
und zwischen
klirrenden Waffen
und Todesschreien
vernahm ich
eine Stimme:

Haltet ein, Helden
der Unvernunft,
besinnt euch auf
den Frieden!
Keine Ruhe
erwartet euch,
wie in Liedern
verführerisch besungen.
Mit euren Schwertern
begrabt ihr
die Hoffnung
der Völker.

Agamemnon sah ich
blutrünstig kämpfen
vor Trojas Schutzwällen.
Sein Blick, von
Hass gezeichnet,
kreuzte den meinen.
Doch sandten mir
seine Augen nicht
erwarteten Schrecken.
Über die Furcht in mir
legte sich ein Tuch
aus Sehnsucht gewebt.